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"Eine unerklärbare Welt"

 

Ansichten über Mathematik und der GÖDELsche Unvollständigkeitssatz 


"Es ist unglaublich, wie unwissend die studierende Jugend auf die Universitäten kommt, wenn ich nur zehn Minuten rechne oder geometrisiere, so schläft ein Viertel derselben sanft ein"

Georg Christoph LICHTENBERG (1742-1799)

Professor für Physik, Verfasser von Aphorismen, die auch heute noch als Standardbeispiele für Literatur der Aufklärung dienen
 
 
Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten,

so ganz trifft diese vor über 200 Jahren verfasste Äußerung auf Sie nicht zu - zumindest in ihrem ersten Teil. Ich will deswegen darüber hier auch gar nicht lange philosophieren, denn Sie alle haben ihre Schulzeit nun erfolgreich abgeschlossen, und ich bin sicher, dass das, was von Schulgesetz und Rahmenplan an Inhalten und Methoden gefordert ist, unterrichtet wurde und sie so zumindest nicht unwissender als Schüler anderer Schulen auf die Universitäten kommen. Egal ob Sie in den Beruf oder in ein Studium gehen, Sie sollten und können das selbstbewusst und zuversichtlich tun.

Was allerdings den zweiten Teil der Aussage und die Mathematik anbelangt fällt es mir schwerer zu widersprechen. Ganz ähnliche Erfahrungen, wenngleich auch nicht in der Größenordnung eines Viertels, habe nämlich auch ich bei dem einen oder - und das sage ich nicht nur wegen der Geschlechtergerechtigkeit in der Formulierung - der anderen in den vergangenen Semestern im Mathematik-Grundkurs machen müssen. Nun muss das nicht notwendig Ihre Schuld gewesen sein, wie auch dazu Lichtenberg (selbstverständlich ohne mich zu kennen) formuliert:

"Die Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft,
aber die Mathematiker taugen oft den Henker nicht."
 
Hier ist unbestritten der zweite Halbsatz richtig, über den ersten dagegen gibt es eine Menge zu debattieren. Gönnen wir uns also dafür eine angemessene Zeit, sagen wir: mindestens die genannten zehn Minuten, um so noch einmal beiläufig auf ganz einfache Art und Weise Ihre Studierfähigkeit, die Sie ja mit dem Abitur bescheinigt bekommen, zu überprüfen.

Wir feiern in diesem Jahr 2005 das Albert-Einstein-Jahr und gedenken damit des Mannes, der durch seine Überlegungen, Gedankenexperimente und Erkenntnisse, insbesondere in der Relativitätstheorie, das physikalische Weltbild - und nicht nur dieses - revolutioniert hat. Selbst so sicher geglaubte Rahmenbedingungen des Lebens wie Raum und Zeit verlieren dadurch ihren Rang als unsere Welt und Erkenntnis bestimmende Konstanten, so wie es noch Kant in der Kritik der reinen Vernunft formulierte. Aber nicht nur das physikalische Weltbild, auch das mathematische Weltbild hat sich im 20. Jahrhundert grundlegend und irreversibel geändert - die Ergebnisse sind zwar weniger bekannt, aber die Konsequenzen nichts desto trotz mindestens so bedeutsam und vielleicht sogar beunruhigend.

Nun gibt es Wandel im Weltbild und der Einschätzung der Mathematik seit der Antike. PLATON (427 v.Chr. - 347 v.Chr.) spricht im Höhlengleichnis, das zumindest den Teilnehmern der Philosophie-AG bekannt in Erinnerung sein dürfte, über
 
„... jenes Gemeinsame, dessen alle Künste und Verständnisse und Wissenschaften noch dazu bedürfen ...Ich nenne es Zahl und Rechnung"
 
Er siedelt dann die Mathematik, da sie sich mit Ideen und nicht mit konkreten Dingen beschäftigt, in der Nähe der Philosophie an, weit über den Naturwissenschaften oder gar der Naturkunde. Eine Kugel ist für ihn nicht die Abstraktion aus der Erfahrung runder Gegenstände, sondern die Gegenstände sind unvollkommene Manifestation der "Idee des vollständig und gleichmäßigen Runden". Mathematik ist für ihn nicht Beschreibung, sondern eine konstituierende Grundlage der Welt und damit auch für deren Erkennbarkeit.

In den folgenden Jahrhunderten schwanken die Einschätzungen zur Mathematik, abhängig vom Zeitgeist und der individuellen Grundüberzeugung: Der später der heilige genannte AUGUSTINUS (354-430) warnt:

"Der gute Christ soll sich hüten vor den Mathematikern ... Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Mathematiker mit dem Teufel im Bunde den Geist trüben und in die Bande der Hölle verstricken."

Dem steht über ein Jahrtausend später in der eigentlich eher durch Irrationalität gekennzeichneten Frühromantik Lob von unerwarteter Seite gegenüber. Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, besser bekannt unter seinem Künstlernamen NOVALIS (1772-1801), vergöttert Mathematik und äußert euphorisch 

"Das höchste Leben ist Mathematik"
"Das Leben der Götter ist Mathematik"
"Reine Mathematik ist Religion"
"Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es wie Gottes Wort liest, der versteht es nicht".

(Naja, er hätte sich vielleicht anders geäußert, wenn er unser Buch zur Wahrscheinlichkeitsrechnung gekannt hätte, aus dem ich ja seit gestern nicht mehr lehren darf!)

Ein anderer Literat, August STRINDBERG (1848-1912), spielt dagegen die Bedeutung der Mathematik eher herunter, wenn er sagt, sie sei lediglich

"Ein artiges Spiel für Leute, die nichts zu tun haben."

Auch wenn er seine Behauptung mit äußerst fragwürdigen Feststellungen zum Potenz- und Wurzelbegriff begründet - so ganz Unrecht hat er, zumindest was reine Mathematik anbelangt, wohl auch nicht.

Die meisten anerkannten Philosophen und Wissenschaftler seit der Renaissance bzw. dem Zeitalter der Aufklärung sind sich allerdings weitgehend einig und auch KANT (1724-1804) hat, übrigens in fast wörtlicher Anlehnung an Leonardo DA VINCI (1452-1519), diesen bis heute weitgehend bestehenden Konsens so formuliert

"In jeder reinen Naturlehre ist nur soviel an eigentlicher Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann."

David HILBERT (1862-1943), genau wie Kant in Königsberg geboren, präzisiert diese Vorstellung noch einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts und formuliert:

"Die Mathematik ist das Instrument, welches die Vermittlung bewirkt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Beobachten: Sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Daher kommt es, dass unsere ganze gegenwärtige Kultur, soweit sie auf der Durchdringung und Dienstbarmachung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathematik findet."

Welch ein Stellenwert wird hier der Mathematik zugebilligt! So ist es nur konsequent, dass er in den später nach ihm benannten Programm von 1921 fordert, wünscht und für möglich hält, eine vollständige und widerspruchsfreie Formalisierung der Mathematik erarbeiten zu können, um so diese auf eine solide Basis zu stellen und damit eine ebenso solide Basis für alle anderen Wissenschaften zu gründen.

Aber schon durch die einigen von ihnen bereits bekannte Antinomie von RUSSEL wurde deutlich, dass eine einheitliche Grundlegung der Mathematik sich schwerer gestaltet als zunächst von Mathematikern wie CANTOR, dem Begründer der Mengenlehre und damit der sog. "modernen" Mathematik, naiv angenommen, da selbst so einfache Begriffe wie die Zusammenfassung von verschiedenen Dingen zu einer Menge zu unauflösbaren Widersprüchen führen kann. Der Durchbruch in diesen Fragestellungen und damit die Revolution im mathematischen Bereich, die der von Einstein in der Physik mindestens ebenbürtig ist, gelingt 1930/31 Kurt GÖDEL (1906-1978), einem Freund und teilweisem Wegbegleiter von Albert Einstein, mit dem Artikel "Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, I." , später kurz nach ihm "Gödelscher Unvollständigkeitssatz" benannt.
Ausgehend von der Vorstellung Hilberts, der sich ja über die widerspruchsfreie Formalisierung mathematischer Theorien optimistisch geäußert hatte, bewies er (hier stark didaktisch reduziert wiedergegeben):

Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig.

Damit ist nachgewiesen, dass nicht einmal die Mathematik, also insbesondere auch die Zahlenlehre, die übereinstimmend als Grundlage der Naturwissenschaften und der Naturerkenntnis genommen wird, auf eine formale, in sich widerspruchsfreie und zugleich vollständige, d.h. alle möglichen Fragen in der entsprechenden Theorie beantwortende Grundlage gestellt werden kann. Da man aber nicht in Kauf nehmen kann, eine in sich widersprüchliche Theorie zu wissenschaftlichen Zwecken zu benutzen, wird man sich also mit der Unvollständigkeit abfinden müssen, d.h. es bleiben notwendig durchaus einfach zu formulierende Sätze, die in der entsprechenden Theorie weder bewiesen noch widerlegt werden können. Als Einführung in diese Problematik mag es für Anfänger sinnvoll sein, sich zunächst mit der um 600 v.Chr. entwickelten EPIMENIDES-Paradoxie in der Version von EUBOLIDES zu befassen, welcher den in sich widersprüchlichen Satz "Ich lüge gerade jetzt" sprach, denn der Beweis des Unvollständigkeitssatzes ist im Kern eine formalisierte mathematische Erweiterung genau dieser Antinomie. Es scheint, als müssten wir uns damit abfinden, in einer Welt zu leben, die für uns prinzipiell nie vollständig erklärbar sein kann!

Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten,

genau in diese Welt werden sie nun mit der Berechtigung und der Befähigung zu studieren entlassen, eine Welt die - und das nicht nur wegen des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes - unsicher, widersprüchlich und merkwürdig ist. Die Divergenzen, im folgenden Beispiel speziell der Kontrast zwischen dem, was wir in der Schule betreiben, und der "Welt da draußen", wurde mir deutlich, als ich vor 14 Tagen, noch unter dem Eindruck der 21 mündlichen Prüfungen über Themen wie die Formel von BAYES, BERNOULLI-Experimente oder gebrochen-rationale Funktionen, unmittelbar nach Verlassen des Schulgebäudes am Zeitungsladen sah, wie eine große deutsche Zeitung mit der Schlagzeile "Mann dreht Mann durch den Fleischwolf" glänzte und damit deutlich machte, wie weit sich das Spektrum der geistigen Interessen in der Gesellschaft erstreckt.
Die Liste der Beispiele könnte nahezu beliebig fortgesetzt werden, sie würde ihnen nicht helfen. Machen Sie das Beste daraus - denn sie haben es zunehmend mehr in der Hand, diese Welt zu formen - zu Ihrem eigenen Wohl und damit vermittelt zu unser aller Wohl. Wir, ihre Lehrer und insbesondere ihre Eltern, haben versucht, ihnen das Werkzeug dazu mitzugeben, benutzen müssen sie es allerdings selbst.
Und ich bin wirklich zuversichtlich, dass sie ihren zukünftigen Aufgaben gerecht werden. Als ich allerdings einigen von Ihnen erstmals in der 8.Klasse, der legendären 8c, begegnete, sah das noch anders aus. Andere von ihnen habe ich in der Zeit kennen gelernt, als ich Klassenlehrer der 10b und später einer E-Phase war. Schließlich mussten sie alle im letzten Schuljahr meinen Mathematikunterricht ertragen, so dass sie der erste Jahrgang in meiner 25jährigen Lehrertätigkeit am Kant sind, von dem ich behaupten kann, jeden einzelnen zu kennen. Und ich kann sagen, es war nicht immer einfach mit ihnen, gerade mit ihnen aus der damaligen 8c. Umgekehrt hatten auch sie es - ich weiß, einige mehr, einige weniger - nicht immer leicht mit mir. Aber gerade in Auseinandersetzungen bilden sich Eindrücke, die in Erinnerung bleiben. Und so prägte sich nach und nach zu jedem von Ihnen ein individuelles Bild, Bilder so verschieden wie Menschen überhaupt, aber alle in ihrer Einzigartigkeit bemerkenswert. Und proportional zu diesem Gewinn an Profil jedes einzelnen hat es mir zunehmend mehr Spaß gemacht, mit ihnen Unterricht zu haben, dass ich fast geneigt bin mich zu der Äußerung hinreißen zu lassen, dass sie mir im nächsten Schuljahr fehlen werden.

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten,

ich habe lange überlegt, ob bzw. was ich Ihnen noch mit auf den Weg in diese - wie ich versucht habe darzustellen - wohl grundsätzlich unerklärbare, aber sehr wohl lebbare und - wie ich denke - lebenswerte Welt mitgeben kann, etwas, das über Mathematik und Schule hinausreicht. Solche "Lebensweisheiten" haben einerseits notwendig immer etwas Pauschales und andererseits weiß ich nicht, ob gerade ich die Instanz bin, solche Empfehlungen von sich zu geben. Trotzdem möchte ich Sie mit ein paar Zeilen verabschieden, die ganz bewusst nichts mit Gödel, Mathematik oder Wissenschaft zu tun haben, sondern eine Sehnsucht beschreiben, die zu erfüllen auch Ihre Sache werden könnte. Sie stammen von Nazim HIKMET (1902-1969), einem der bedeutendsten türkischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (1902-1963), der für seinen Kampf für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung 14 Jahre im Gefängnis und nach Aberkennung der Staatsbürgerschaft sein Leben im Exil verbrachte, aber trotzdem seine Hoffnungen auf eine bessere Welt nie verlor:

Leben-
Einzeln und frei wie ein Baum
Und brüderlich wie ein Wald
Das ist unsere Sehnsucht. 

Ich wünsche Ihnen allen, jedem Einzelnen von Ihnen, jedem Einzelnen von Euch alles Gute für den weiteren Lebensweg.


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Abiturrede 2005
Eine unerklärbare Welt
rede05.pdf (626.82KB)
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