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"Mir fehlen die Worte"


Welch missliche Situation für eine Rede


Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten!


Welch missliche Situation: Mir fehlen die Worte.

Und das gerade heute, da Sie mich vorgestern gebeten haben, diese Festrede zu halten. Ich kenne Ihre Gründe dafür nicht. Ist Ihnen wir klich erst so kurzfristig eingefallen, jemanden anzusprechen? Haben Sie niemand anders gefunden? Bin ich - wie auch immer - so etwas wie das kleinere Übel? Ist es der Ausdruck einer "Larifari"-Haltung nach dem Motto: "Ist mir doch egal, wer da was labert?" Oder wollten Sie wirklich etwas von mir hören bzw. wenn: was wollen sie von mir hören?
    - Eine Laudatio?  
    - Eine Provokation?  
    - Erinnerungen?  
    - Zitate, Kalendersprüche: Plattheiten, die geistigen Tiefgang vortäuschen?

Mir fehlen die Worte zu einer Laudatio. Laudatio - lateinisch, von laudare: loben, preisen, rühmen, laut Wörterbuch "die Lobrede auf Preisträger oder Tote", vielleicht die angemessene Form der Festrede. Aber eine Laudatio wird meine Rede nicht, das kann ich nicht, und alle diejenigen, die jemals bei mir Unterricht hatten wissen es: peinliche, weil zu oft verlogene oder gar "pädagogische" Lobhudelei ist mein Ding nicht.

Mir fehlen aber auch die treffenden, die Sie treffenden Worte zum Gegenteil einer Laudatio, zu einer Schmähung. Sicherlich - ich könnte Ihnen - und das nicht zu Unrecht - Ihre Arroganz, Ihr Desinteresse, Ihre Bequemlichkeit um nicht zu sagen Ihre Faulheit, Ihre verbreitete Unwilligkeit zum Lernen vorwerfen, würde aber bei den Angesprochenen damit wenig bewirken - solche Beschimpfungen quittieren Sie mit einem süffisanten Lächeln -. Vielleicht gelänge es mir wenigstens, Ihre Eltern, Angehörigen und Freunde, die ich hiermit auch herzlich begrüßen möchte, zu verärgern - andererseits: zu abgegriffen sind solche Provokationen, zu alltäglich, sie gehören zumindest in meiner Generation beinahe zum guten Ton, sie regen weder auf noch an, sie erfüllen nur bestimmte Erwartungen das Ritual dieser Feierstunde betreffend.

Mir fehlen leider auch dann die Worte, wenn es darum geht, hier über meine ganz persönlichen Erinnerungen an Sie als Menschen und Begebenheiten der letzten sieben Jahre, die wir hier gemeinsam auf unserer Schule verbracht haben, zu reden. Das heißt nicht, dass ich mich nicht gern erinnere, dass wir in der gemeinsam verbrachten Zeit Erinnernswertes erlebt haben, vieles fiele mir spontan ein:
     - Herrn Gründers Frage im Juni 1992 "Was spricht eigentlich dagegen, dass du im nächsten Schuljahr eine siebte Klasse übernimmst", die ich wahrheitsgemäß mit der lapidaren Feststellung "Ich mag keine Siebtklässler" beantwortete,
     - die Tatsache, dass ich am ersten Schultag Klassenlehrer der 7C war, von deren 28 frohen Gymnasialanfängern immerhin 12 heute Ihr Abiturzeugnis bekommen,
     - die vielen Unterrichtsstunden in der Klasse und das noch häufigere "Herr Brehm, ich da noch mal eine Frage!",
     - die Arbeit an der szenischen Aufführung der "Bürgschaft" zum Sommerfest und zur Begrüßung der neuen 7. Klassen,
     - ein irgendwann zur Klasse gestoßenes obskures Holztier namens "David", das uns fortan auf Wandertagen und Klassenfahrten begleitete,
     - ein Lied über die inzwischen drittklassige Sportgemeinschaft Wattenscheid, die damals noch - ich zitiere - "besser als die Bayern" war,
     - die Dusche in der Jugendherberge Josefsthal,
     - das Betriebspraktikum in Klassenstufe 10 und die vielen, vielen Kindergärten,
     - eine verlorene Wette, die mich in Florenz zwar nicht den Kopf, wohl aber Teile davon kostete,
     - der unerlaubte Sprung ins Meer vom Landungssteg in Marina di Massa, 
     - The Old Bull and Bush und die gut gefüllte Reisetasche in Hampstead Heath,
     - Bad Sachsa und Geesthacht,
     - Fehlerquotienten deutlich jenseits von 10,
     - Haselnussschnitten (die inzwischen nicht mehr Manner-Schnitten heißen) und andere bei KAISER’S erworbene Naturalien im Leistungskurs,
     - schließlich 19 mündliche Abiturprüfungen mit Ausfällen von 0 bis 15 Punkten.

Alles das sind Begebenheiten, derer es sich - jeder in ihrer eigenen Art - zu erinnern lohnt, zum lachen, vielleicht auch zum etwas wehmütig zurückdenken. Dafür aber ist der Ort hier und jetzt nicht, vielleicht später, in einem kleineren Kreis, in anderer Atmosphäre, bei einem Glas Wein ... und ich bin sicher, dann werden mir dazu die Worte nicht fehlen.

Noch allerdings versagen sie mir ihren Dienst, mir fehlen insbesondere passende Worte, Ihnen nach den nun sieben oder auch mehr Jahren, die Sie hier am Kant-Gymnasium verbracht haben, Gewichtiges mitzuteilen. Genauer: ich weigere mich das hier zu tun. Was soll ich, noch dazu stellvertretend für meine Kollegen, die ich - last but not least - nun endlich auch begrüßen möchte, was sollen, was können wir Ihnen jetzt, 5 Minuten vor 12 bzw. konkret 10 Minuten vor der Überreichung der Abiturzeugnisse noch Gewichtiges mitgeben, wenn es in der zurückliegenden Zeit nicht gelungen ist. Der Möglichkeiten dazu gab es viele, es wurde auch viel versucht, zu viel doziert, oft geredet, zu selten diskutiert:
    - bei der Vermittlung des vom Rahmenplan geforderten Stoffes, der trotz aller Schwächen und hin und wieder zu Recht kritisierten Inhalte doch zur Vermittlung der Grundlagen dienlich ist, die Sie zum Bestehen in unserer modernen, aber von einer langen Tradition geprägten Welt benötigt,
     - beim Erwerb der sog. Schlüsselqualifikationen, die gerade in unserer Zeit gegenüber reinem Wissen immer mehr an Bedeutung gewinnen,
     - auch zu Fragen und Problemen Ihres Alltags, zu denen wir nach bestem Wissen und Gewissen mit gut gemeinten, teilweise leider missverstandenen oder bewusst missachteten Hinweisen Ihre Einstellungen zu beeinflussen versucht haben, in der Hoffnung, Ihnen damit helfen zu können. Gerade das gelang leider zu oft - und in wichtigen Fällen - nicht.

Jetzt aber, mit Ihrem Abitur ist die Zeit der vielen Worte von uns an Sie abgelaufen. Ich glaube nicht, dass Sie deswegen viel vermissen werden, und ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt viel zu vermissen gibt. Aber wenn sie dennoch so wie ich meinten, dass manches von dem Unterrichteten und Gelehrten der letzten Jahre von Wert für Sie ist, sie also aus der vergangenen Zeit hier einen Nutzen haben ziehen können, fiele es mir einerseits leichter, Sie hier und heute gehen zu sehen, andererseits erlaubte es mir, die Möglichkeiten im Lehrberuf wieder optimistischer zu beurteilen und hoffnungsvoller in die Zukunft zu schauen.
So aber fehlen mir noch immer die Worte, doch vielleicht bietet das gerade eine Chance, eine Chance, die es zu nutzen gilt, denn ich bin überzeugt, dass es gut wäre, wenn uns öfter die Worte fehlten, denn es ist leichter und um so vieles unverbindlicher
     - "Tschuldigung" zu rufen als Reue zu zeigen, Wiedergutmachung oder zumindest Schadensbegrenzung zu praktizieren,
     - "geil, ey, cool" zu sagen anstatt sich ehrlich zu freuen und das andere auch spüren zu lassen,
     - ein pathetisches "ich liebe dich" über die Lippen zu bringen anstatt wirklich und mit Hingabe zu lieben,
     - Artikel der Menschenrechte zu zitieren anstatt dem unmittelbar betroffenen Mitmenschen, z.B. in der U-Bahn, konkret zu helfen, um so Leid zu verhindern oder wenigstens zu mindern,
     - kurzum: sich hinter Worten verschanzen, wo doch Handeln oder einfach nur menschlich zu leben gefordert ist.
     - Und zugegeben, auch beim Erstellen dieser Rede habe ich mir mehrfach gewünscht, es solle mir ein gutes Goethe-Zitat einfallen, hinter dessen Erörterung ich mich verstecken könnte, dann - so dachte auch ich - würde es mir leichter fallen, hier oben zu stehen.

Letztendlich ist das Fehlen der Worte aber auch symptomatisch und charakterisiert die augenblickliche Situation treffend: genau genommen ist eine Abiturfeier keine gute Situation für viele Worte, das Hier und Heute ist eine Situation zum Feiern, zum Genießen, zum Leben und zum Erleben. Also: "Der Worte sind genug gewechselt. Lasst mich auch endlich Taten sehn!" verlangt schon der Theaterdirektor in Goethes "Faust", und ich denke, genau das ist die Forderung einerseits an uns alle, aber ganz besonders die Forderung der Stunde an Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: Die Zeit der Worte, des Theoretisierens, des gedanklich Geleitet- bzw. von Ihnen vielleicht so empfunden: Gegängeltseins in der Schule ist vorbei. Im Beruf oder im Studium, ferner umfassend in Ihren Lebensumständen, die Sie nun immer mehr selbst in die eigenen Hände nehmen können und müssen, aber insbesondere in Ihrer zukünftigen Position in unserer Gesellschaft, in unserem Staat werden vermehrt Entscheidungen, Taten und damit auch Verantwortung von Ihnen gefordert. Ich wünsche Ihnen und damit eigentlich vermittelt uns allen, dass Sie in dieser, für viele vielleicht neuen Situation, erfolgreich bestehen können und nicht hinter hohlen Worthülsen oder plattem Bildungsjargon Zuflucht nehmen. 

Ich hoffe auch, dass Sie dann Verhaltensweisen an den Tag legen, die sich wohltuend von manchem Verhalten abheben, das hier in der Schule gezeigt wurde: Große Worte vorneweg, ggf. auch im Nachhinein, der Rest, die Handlung, die Tat kann - muss aber nicht - später folgen. Aber ich befürchte, das wird bei manchen von Ihnen nicht der Fall sein. Ich wünschte es wären weniger. Ich wünschte darüber hinaus, wir, die Institution Schule, hätten erfolgreicher dazu beitragen können, dass es weniger wären.

Aber auch Ihnen, ja, vielleicht gerade Ihnen, jedem Einzelnen von Ihnen, gelten meine besten Wünsche für die Zukunft.

Euch anderen aber, jedem Einzelnen von euch, denen vielleicht wie mir manchmal unbewusst, aber manchmal auch ganz bewusst die Worte fehlen, vielleicht weil ihr spürt, dass ein Lächeln mehr als tausend Worte sagen kann: Euch gilt darüber hinaus meine Sympathie.

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Abiturrede 1999
Mir fehlen die Worte
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Mir fehlen die Worte
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