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v 3.10.24 / 2000 - 2024

"Abiturientenbeschimpfung"


Eine bewusst provokative Rede, die -genau wie beabsichtigt- stark polarisiert


"Nur die Untätigen begehen keine Fehler." 

Peter Alexandriewitsch Kropotkin, 18421921, Fürst, Geograph und Naturwissenschaftler, dem seine Tätigkeiten für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch sich als Mensch frei entfalten kann, sowohl in Russland als auch in Frankreich mit Haft gelohnt wurden.

"Nur wer mit Unbekanntem rechnet, rechnet richtig." 

Gustav Landauer, 18701919, Publizist, Politiker in der Münchener Räterepublik 1919, we­gen seines Engagements dort verhaftet, im Zuchthaus Stadelheim von Soldaten und Polizisten zu Tode getreten.

"Nur langweilige Naturen sind frei von Widersprüchen." 

Erich Mühsam, 18781934, Schriftsteller, im KZ Oranienburg zu der Zeit ermordet, als fester Glauben an eine möglichst geradlinige deutsche Persönlichkeit, nicht aber Widersprüchlichkeit als eine Tugend gesehen wurde.    


Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten ! 

Vielleicht kommen manchen von Ihnen diese Zitate bekannt vor. Sie gefallen mir, ihre Aussagen beschreiben Lebenseinstellungen, mit denen ich mich identifizieren kann. So habe ich sie auch gelegentlich schon vor Jahren benutzt, als ich hier und dort gebeten wurde, eines der von Weisheit durchdrungenen Sprüchlein in Ihr persönliches Poesiealbum  -Erinnern sie sich etwa nicht mehr?- -Wollen Sie sich daran nicht mehr erinnern?- zu schreiben, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass sie in Ihrem damaligen Alter die Aussagen nicht im vollen Umfang verstehen konnten. Nun haben Sie mich, misslicher Weise leider erst vor wenigen Tagen, erneut gebeten, Ihnen in anderem Rahmen und anderer äußerer Form, aber doch mit der gleichen Intention, noch einmal etwas vergleichbar Erhebendes oder Erbauliches zu sagen, nämlich hier und heute in Form dieser Festrede. 

Aber ich muss Sie und auch Ihre Eltern, Angehörigen und Freunde, sowie meine Kolleginnen und Kollegen, die ich an dieser Stelle ebenfalls alle herzlich begrüßen möchte, enttäuschen, dies wird keine erhebende oder erbauliche, ja nicht einmal eine originelle oder neue Rede, das, was ich Ihnen zu sagen gedenke, habe ich vor Jahren bereits einem Abiturientenjahrgang in sein Abibuch geschrieben, einem Jahrgang, den ich, ähnlich wie den Ihren, dadurch sehr gut kannte, dass ich seine Entwicklung von der 7. Klasse an mitverantwortlich verfolgen durfte. Aber seien Sie vergewissert, alles zu sagende trifft auf Sie mindestens genauso gut wie auf den damaligen Jahrgang zu. Andererseits kann ich Sie aber auch beruhigen, dies wird keine lange Rede, denn das, was ich Ihnen zu sagen gedenke, kann kurz in Worte gefasst werden. Denn was liegt nach den einleitenden Ausführungen näher, als erneut die der Rede vorangestellten Zitate zu benutzen, in der Hoffnung, dass Sie sie nun besser verstehen. Denn immerhin sind seitdem sieben Jahre vergangen, sieben Jahre der Beschulung am Kant-Gymnasium, in denen nicht nur hier so viel passiert ist, dass es sich lohnt, kurz zurückzuschauen: Auf die Schulzeit, auf gesellschaftliche Entwicklungen in dieser Zeit und schließlich auf speziell Ihre persönliche Entwicklung. 

In diesen sieben Jahren haben wir hier eine Menge Zeit gemeinsam verbracht, unfreiwillig wie auch freiwillig:  

     - in den Klassenräumen im Unterrichtsgeschehen, bei Klassenarbeiten und Klausuren, in Abiturprüfungen, aber auch beim Philosophieren in der AG oder bei einer Partie Go,  

     - zwischen Tür und Angel in diversen Pausengesprächen bei den kleinen und großen schulischen Problemen, aber auch manchmal bei einem persönlichen Wort,  

     - im Schulgebäude bei der Beaufsichtigung, bei Ermahnungen und Verboten, aber auch bei gemeinsamen Aktivitäten wie Osterhof und Bodinpokal bzw. beim Basketballturnier, den Projekttagen und den alljährlichen Schülerfesten, bei Klassenfeten und, nicht zuletzt, dem gelungenen Abi-Streich,  

     - draußen in der sog. "weiten Welt", an Wandertagen und auf Klassenfahrten sei es nach Benediktbeuern, Kulmbach oder wohin auch immer, an die sich bemerkenswerter Weise viele Beteiligte, im Gegensatz zum sonstigen Schulbetrieb, oftmals recht gern erinnern. Ich denke, ein wichtiger Grund dafür ist, dass dort zumindest teilweise die ansonsten strikte Trennung zwischen Lehrenden einerseits und Lernenden andererseits zugunsten gemeinsamen Erlebens und Erfahrens überwunden werden konnte, was im Schulalltag leider nur schwer und entsprechend viel zu selten möglich ist.   

In diesen sieben Jahren hat sich die Welt im allgemeinen in einer zuvor nicht geglaubten Weise verändert, müßig in die entsprechende Euphorie einzustimmen. Im Gegenteil, es lohnt vielmehr, darauf zu schauen, dass sich auch eher unerfreuliche Veränderungen um uns und insbesondere in uns ergeben haben. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen:  

     - seit November 1989 wurde zunehmend klarer, dass nicht die von anderen gebauten, konkreten Betonmauern um uns, sondern die von uns selbst errichteten Mauern in uns, unseren Hirnen und Herzen, das nur schwer zu überwindende Hindernis auf dem Weg zu einer solidarischen Gesellschaft freier und gleichberechtiger Men­schen sind,    

     - im Januar 1991 wurde dann die Vorstellung zu Grabe getragen, dass zumindest für unseren Zivilisationskreis endlich Krieg nicht mehr als legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer oder gar wirtschaftlicher Interessen akzeptiert, geschweige denn propagiert werden kann,   

    - schließlich spätestens seit heute ist bei mir ebenso wie vielen anderen Berlinern das doch so notwendige Vertrauen in die Seriosität politischer Statements schwer erschüttert, nachdem sich die jahrzehntelangen Beteuerungen als nicht beständig gegenüber kurzfristigen und teilweise egoistischen Interessen gezeigt haben. (*)   

In diesen sieben Jahren haben aber auch im speziellen Sie sich verändert, und damit komme ich zum eigentlichen Hauptanliegen mei­ner Ausführungen. Denn das, was bei manchen in der 7. Klasse nur als Anlage erkennbar war, hat sich bei leider zu vielen verstärkt:  

     - die Nachahmung der Kleidung des Freundes ist dem permanenten Nachlaufen des neuesten Modetrends gewichen,  

     - das verkrampfte Streben nach einer besseren Note in den Klassenarbeiten ist zur Orientierung auf einen möglichst einträglichen Beruf geworden,  

     - die Bereitschaft, auf Individualität zu verzichten, um in der Klasse eine angesehenere Stellung zu erlangen, hat dem Streben nach größtmöglicher gesellschaftlicher Anerkennung Platz gemacht,  

     - das latente Desinteresse an den Klassenbelangen oder gar der Arbeit in der GSV ist zur Ignoranz des politischen Geschehens überhaupt eskaliert,  

     - die mangelnde Bereitschaft, innerhalb oder gar außerhalb des Unterrichtes den Mund aufzumachen, hat sich zu einem bedrückenden Schweigen zu vielen, vielleicht lebenswichtigen Fragen entwickelt,  

     - die Anpassung an die von der Schule geforderten Normen ist nahtlos eine angepasste Integration in unsere Konsum und Leistungsgesellschaft übergegangen,  

     - die Orientierung an den von BRAVO vermittelten Werten ist inzwischen durch die kritiklose Akzeptanz des Zeitgeistes vollwertig ersetzt.   

Aber um der vollen Wahrheit genüge zu tun darf ich andererseits auch feststellen, dass es manche unter Ihnen gibt, auf die das Gesagte nur teilweise, in beschränktem Umfang oder auch gar nicht zutrifft. Ich wünschte mir, es wären mehr. Ich wünschte mir darüber hinaus, wir als Verantwortliche an der Schule hätten erfolgreicher dazu beitragen können, dass es jetzt mehr wären. Mir jedenfalls fiele es dann leichter, Sie heute gehen zu sehen. Daher scheinen mir die Aufforderungen, die in den Zitaten enthalten sind, so aktuell zur Weitergabe an Sie wie in der 7. Klasse: Für die einen als Provokation, für andere als Denkanstoß, für manche vielleicht sogar als Verhaltensdisposition:   

"Nur die Untätigen begehen keine Fehler !" Lassen Sie sich von der Angst, eine möglicherweise falsche Entscheidung zu treffen, nicht davon abhalten, überhaupt aktiv zu werden. Denken Sie daran: "Klug ist nicht, wer keine Fehler macht, sondern wer sie schnell zu verbessern versteht", ein Zitat von dem gegenwärtig sicher etwas unzeitgemäßen W.I. Lenin, dessen negative heutige Einschätzung aber nicht zuletzt auch darauf beruht, dass dessen selbsternannte Nachfolger obige Erkenntnis zu ihrem eigenen Nachteil nur sehr zögerlich, wenn überhaupt, beachteten bzw. immer noch beharrlich missachten.   

"Nur wer mit Unbekanntem rechnet, rechnet richtig !" Machen Sie sich frei von der Vorstellung, nur das Vorhersehbare, das Planbare biete Gewähr für eine erstrebenswerte Zukunft, im Gegenteil, stehen Sie gerade dem Unerwarteten, der Veränderung, dem Neuen und damit dem Leben schlechthin positiv, mit gespannter Aufnahmebereitschaft gegenüber.  

"Nur langweilige Naturen sind frei von Widersprüchen !" Stehen Sie zu Ihrer eigenen Widersprüchlichkeit und Unausgegorenheit, leben sie ihre eigenen Widersprüche, versuchen Sie nicht krampfhaft, alles scheinbar Unpassende, Unzeitige zu beseitigen und sich, gleich welchen Vorgaben auch immer, anzupassen. Gerade der Umgang mit Widersprüchlichkeiten stellt den Motor für Ihren persönlichen und darüber hinaus allgemeinen Fortschritt dar.   

Aber ich weiß, viele von Ihnen habe ich, haben wir in den letzten sieben Jahren mit derartigen Appellen nicht erreichen können, viele von Ihnen werde ich auch jetzt nicht erreichen. Bei vielen von Ihnen bewirken derartige Aufforderungen doch lediglich ein gewisses Unwohlsein in der Magengegend, das bei zu häufiger Wiederholung selbiger langsam den Hals hinaufsteigt und sich zu dem allseits bekannten Würgen verdichtet, dessen letzte Konsequenz zu provozieren mir hier nicht angemessen erscheint, da dadurch diese Feierstunde in ihrem festlichen Charakter nicht unerheblich gestört würde. Es ist mir klar, viele von Ihnen werden sich weiter so entwickeln, wie die genannten Tendenzen vermuten lassen, sie werden weiter auf dem oben beschriebenen Weg vor­anschreiten, integriert, angepasst, vereinnahmt für den Preis materiellen Erfolges und gesellschaftlicher Anerkennung. 

Auch Ihnen, ja, vielleicht gerade Ihnen, jedem einzelnen von Ihnen, gehören meine besten Wünsche für die Zukunft.   

Euch anderen aber, die Ihr bereit seid, einen eigenen und, wie die anfänglich genannten Beispiele zeigen, vielleicht nicht so glatten, dafür aber selbstbestimmten und an eigenen Idealen orientierten Weg zu suchen und zu gehen, jedem einzelnen von Euch, Dir, Dir und auch Dir, gehört darüber hinaus meine Sympathie. 



(*) Hier allerdings irrte ich mich, genau an diesem Abend wurde beschlossen, Berlin mit allen Funktionen zur neuen/alten Hauptstadt Deutschlands zu machen.

 
 
 
 
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