"Laufe nicht der Vergangenheit nach. Verliere dich nicht in der Zukunft.
Die Vergangenheit ist nicht mehr.Die Zukunft ist noch nicht gekommen.
Das Leben ist hier und jetzt."
(Siddhartha Gautama, 560 v.Chr - 480 v.Chr, Prinz aus dem Adelsgeschlecht der Sakya, der wegen seiner Erkenntnisse später auch Sakyamuni - der Weise aus dem Geschlecht der Sakya - genannt wurde und noch heute in aller Welt unter der Ehrenbezeichnung Buddha - der, der zur Erleuchtung gelangte - bekannt ist)
Liebe Abiturientinnen, Liebe Abiturienten!
Ihr Abitur - Anlass der heutigen Feierstunde - wird zu Recht von ihnen als ein wichtiger Augenblick in ihrem Leben angesehen. Einerseits markiert er -rückblickend- den Endpunkt ihres mindestens dreizehn Jahre dauernden Schullebens. Andererseits ist er -vorausschauend- der Startpunkt in ihr Studenten- oder Berufsleben, auch wenn dazwischen vielleicht noch freiwilliges soziales Jahr, Zivildienst, Bundeswehr oder einfach Freizeit liegen. Insbesondere aber beinhaltet er - einfach nur auf das schauend, was jetzt ist - für Sie, Ihre Freunde, Bekannte, Angehörige und uns, Ihre inzwischen ehemaligen Lehrer Erleichterung, Zufriedenheit, aber insbesondere Grund zur Freude, und das ist Anlass, Sinn und Zweck dieser Feierstunde.
Ihr Abitur - Anlass dieser Rede - ist daher vielleicht überhaupt kein sonderlich guter Anlass für eine Rede - denn eigentlich wäre es besser, sich einfach und unmittelbar mit ihnen zu freuen, vielleicht dem einen oder anderen wortlos die Hand zu drücken, anzulächeln oder einen Autoschlüssel zuzuwerfen. Warum also nochmals das Unterfangen, sie intellektuell und zudem noch wortlastig zu berieseln - mal ganz abgesehen davon, dass das im Unterricht in den letzten Jahren ja auch nicht immer problemlos geklappt hat. Nur deswegen, weil Festreden unumgänglicher Bestandteil einer solchen Feierstunde sind? Oder aber weil Sie sich etwas von einer Festrede erwarten? Wie dem auch sei: Offensichtlich genieße ich heute endlich einmal die Aufmerksamkeit, die mir im Unterricht, gerade als bei etlichen von ihnen in der 10. Klasse unterrichtete, nicht immer zuteil wurde. Und diese Chance werde ich gnadenlos nutzen.
Ihr Abitur - zunächst Anlass, noch einmal zurück zu blicken - beinhaltet eine Menge Vergangenheit, Erinnerung, vielleicht schon heute verklärende Nostalgie, denn zumeist fällt der Blick zurück milde und beschönigend aus, auf schulische Erfolge, bestandene Prüfungen, Wandertage, Sportfeste, Klassenfahrten, Expo-Besuch, Arbeitsgemeinschaften und zudem viele ganz persönliche Erinnerungen. Dabei wird vergessen - oder bewusst unterschlagen -, dass Sie doch wohl oder übel, vielfach aber eher übel als wohl hier waren, weil der Staat Schulbesuch verfügt und Ihre Eltern, die ich an dieser Stelle auch herzlich begrüßen möchte, nun diese Pflicht durch die Auswahl des Kant-Gymnasiums umgesetzt hatten. Und ich muss es für meine Person gestehen, meine Kollegen, die ich an dieser Stelle ebenfalls herzlich begrüßen möchte, kann ich nur bitten, sich selbst entsprechend zu hinterfragen: Obwohl ich den Beruf des Lehrers auch nach 25 Dienstjahren immer noch gern ausübe, nicht zuletzt bin ich aber auch aus dem Grund hier, dass ich für meinen Lebensunterhalt einem anständigen Beruf nach gehen muss und es mir durch die materiellen, aber auch sozialisationsbedingten psychischen Schranken nicht möglich ist, meine Tage auf einer Bergwiese im Himalaja oder auch nur wie seinerzeit Herman Hesse bei einem Glas Wein in Montagnola mit der Suche nach der letzten Wahrheit zu verbringen.
Ihr Abitur - ebenso Anlass zum Ausblick - beinhaltet eine Menge Zukunft, auch wenn gegenwärtig eher Zukunftsängste die Diskussion bestimmen. Macht es aber Sinn, Ihnen dazu etwas zu sagen? Ist es notwendig, Ihnen jetzt ein weiteres mal zu versichern, dass Sie unsere guten Wünsche für Ihre Zukunft begleiten? Ist es überhaupt möglich, ihnen hier etwas für die Zukunft mitzugeben? Niemand weiß, wie ihre Zukunft aussehen wird, nicht einmal sie selbst. Auch Sie können lediglich spekulieren, und genau diese Spekulationen halte ich für – bestenfalls - müßig, eher für überflüssig, eigentlich aber für problematisch, in gewisser Hinsicht sogar für gefährlich, verengen doch diese Spekulationen, sowohl die Ängste als auch die Hoffnungen und Wünsche den Blick auf das nahe liegende.
Denn Ihr Abitur - offensichtlich Anlass, aber nur scheinbar ein guter Anlass für Rückblick und Vorschau - beinhaltet nämlich einen weiteren und, wie ich denke, weit wichtigeren Aspekt als Vergangenes und Zukünftiges, nämlich in erster Linie eine Menge Gegenwärtiges. Und genau diese Gegenwart möchte ich ihrem Blick, ihrer Achtsamkeit anempfehlen. Das ist beiläufig schwieriger, als man denkt. Gegenwart ist etwas ambivalentes, dialektisches, einerseits ist nichts so permanent allgegenwärtig, andererseits aber auch so flüchtig und vergänglich. In ihr manifestiert sich aber gerade darin ein Grundprinzip allen Lebens, nämlich das des permanenten Wandels und des kontinuierlichen Überganges, den wir allerdings, um ihn in unser eher von Statik geprägtes Weltbild besser einordnen zu können, wie einen Fixpunkt auffassen und damit der innewohnenden Dynamik berauben. Und so macht es eigentlich keinen Sinn, über die Gegenwart im Gegensatz zu Vergangenheit und Zukunft zu reden oder zu spekulieren, Gegenwart und nur die Gegenwart muss, kann, sollte und muss man nämlich leben. Und auch das ist schwieriger, als man beim oberflächlichen Hinsehen denkt.
Wir alle tun ständig sehr viel, um das nicht wahrhaben zu müssen. So laufen wir immer wieder durch Erinnerungen der Vergangenheit nach oder verlieren uns mit Erwartungen und Wünschen in der Zukunft.Wer von uns ist nicht im Besitz eines Fotoapparates oder einer Videokamera, mit denen man, wie es heißt, die schönsten Momente des Lebens festhalten kann? Aber genau das kann man nicht! Wer kennt sie nicht, die Wehmut und die Enttäuschung, die beim Anschauen alter Bilder entsteht, weil man eben gerade nicht den damals so intensiv erlebten Moment festhalten konnte oder ihn gar reproduzierbar gemacht hat? Nicht nur das, paradoxerweise hat man doch unter Umständen genau Gegenteiliges erreicht: Denn durch den Akt des Fotografieren besteht die Gefahr, dass man die Momente selbst, die man dadurch festhalten will, in ihrer Intensität zerstört, zumindest aber beeinträchtigt.
Aber auch die Orientierung auf die Zukunft ist nicht unproblematisch: Wer zerstört nicht gelegentlich die gerade mögliche Intensität des Erlebens durch Erwartungen, insbesondere durch die Angst, es könne etwas Unerwartetes und damit Bedrohliches passieren? Nun hilft aber bekanntlich Angst nicht, zukünftige Probleme zu verkleinern, sie ist lediglich geeignet, einem die Gegenwart zu verleiden. Aber auch eine positive Einstellung zum Zukünftigen, Hoffnungen und selbst Vorfreude sind geeignet, die Gegenwart auf eine nachteilige Art und Weise zu relativieren. Überhaupt: Glück ist nicht als absoluter Wert fassbar, sondern resultiert aus der Differenz von Erwartungshaltung und wirklichem Geschehen. Die zufriedensten Menschen sind mir nicht dort begegnet, wo man es vielleicht erwartet, sondern in nepalesischen Gebirgstälern, und das hat mir zu denken gegeben.
Ihr Abitur - Anlass, und wie ich meine, ein guter Anlass zum Versuch, in der Gegenwart zu leben, Gegenwart wirklich zu leben - beinhaltet mit seinem Übergangscharakter die Chance, diese weit verbreitete, eigentlich merkwürdige Veranlagung, das Erleben der Gegenwart durch Vergleich mit der Vergangenheit oder Erwartungen an die Zukunft zu behindern, zu erkennen und möglicherweise sogar abzulegen. Vielleicht hilft dabei sich als eine Ursache das uns - aber durchaus nicht allen Kulturkreisen! - ach so gewohnte, weil anerzogene, gelehrte sicher in vielen Bereichen auch notwendige und sinnvolle vergleichende Denken, das Kategorisieren, das Einordnen, zu erkennen, das daraus resultierende Unwohlsein, wenn man etwas nicht in die berühmte Schublade packen kann.
Vielleicht hilft es auch zu versuchen, Situationen vorurteilsfrei wahrzunehmen. Wie oft hört man den Satz "Da gibt es doch gar nicht" genau in dem Moment, in dem unmittelbar erlebt wird, dass es genau das gibt, dessen Existenz verleugnet wird. Zugegeben, als Deutschlehrer ist mir schon klar, dass dieser Satz doch eigentlich ganz anders gemeint ist und Erstaunen ausdrücken soll, etwa im Sinne „Das kann doch nicht wahr sein“. Aber auch dabei wird das unmittelbare Erleben in einer bedenklichen Art und Weise diskriminiert. Noch deutlicher ist die Formulierung „Das darf doch nicht wahr sein“, denn hier wird die objektive Komponente der scheinbaren Unmöglichkeit durch einen Wunsch, orientiert an den eigenen Vorurteilen im wahrsten Sinne des Wortes, ersetzt. Und genau das machen wir alle immer und immer wieder: wir nehmen die Dinge nicht so, wie sie sind, unvoreingenommen, offen und vorurteilsfrei, sondern wir maßen uns an zu wissen, wie sie zu sein haben!
Ihr Abitur - wieder einmal guter Anlass für mich zu all diesen Überlegungen – wurde vor etlichen Jahren, als ich meine Schulzeit beendete, noch „Reifeprüfung“ genannt, und man meinte damit auch etwas Unbestimmtes in Richtung einer allgemeinen menschlichen Reife. Heute wird dieser Reifebegriff klar als „allgemeine Hochschulreife“ spezifiziert, das ihnen jetzt bescheinigte Bildungsziel des Gymnasiums ist und bleibt wohl auch die Studierfähigkeit. Für meinen Leistungskurs, den ich an dieser Stelle noch einmal ganz besonders grüßen möchte, kann ich sagen, dass ich sicher bin, dass sie alle, was die Mathematik anbelangt, das Wissen erworben haben, was sie benötigen, um im Beruf oder Studium die Voraussetzungen zu haben, erfolgreich weiterarbeiten zu können. Weiterhin wünsche ich mir, dass wenigstens einige von Ihnen zusätzlich mitbekommen hätten, dass Mathematik mehr sein kann als nur Anwendung von Sätzen und Definitionen, wenn also meine Faszination ein wenig auf Sie übergesprungen wäre. Ganz besonders allerdings würde mich freuen, wenn ihnen unser Kurs darüber hinaus einfach hin und wieder, vielleicht auch nur in einigen ansonsten völlig unspektakulären Momenten schlicht und einfach Spaß gemacht hätte, wenn er ihnen punktuell positives Lebensgefühl vermittelt hätte, so wie es bei mir häufig der Fall war. Denn dann hätten wir vielleicht etwas zur Klärung der folgenden beiden Fragen beigetragen, die sich für mich im Zusammenhang mit der erwähnten, unbestimmten Reife im Sinne von „Reife für das Leben“ stellen, die in ihrer Allgemeinheit und Tragweite weit über die in der Schule behandelten Fragen hinausweisen:Muss so etwas wie „Leben“ gelernt werden? Ich denke: Ja, denn wir haben inzwischen -leider- das natürliche Gefühl, den Instinkt dafür verloren. Warum gibt es denn so viele ohne einen ersichtlichen Grund unglückliche Menschen? Hier haben Sie, habe ich, haben wir alle Defizite. Versuchen wir diese Defizite zu beheben, indem wir üben, die Realität des Lebens und damit die des ständigen Wandels so anzunehmen, wie sie ist, nicht wie wir meinen, dass sie seien sollte. Lassen wir uns in jedem Moment neu überraschen, stehen wir dem, was passiert, positiv gegenüber.Muss also so etwas wie „Leben“ gelehrt werden? Ich denke: Nein, denn es kann nicht gelehrt werden. Letztendlich muss jeder seinen Weg finden, und selbst die besten Vorbilder dürfen und können nicht zur unreflektierten Nachahmung dienen, vielleicht zur Orientierung, etwa so wie es die Hauptperson in Hesses Siddhartha erfährt, analog zum historischen Siddharta Gautama, der noch heute in aller Welt unter der Bezeichnung Buddha - der, der zur Erleuchtung gelangt ist - bekannt ist, und der formuliert: „Glaubt nicht dem Hörensagen und heiligen Überlieferungen, nicht Vermutungen oder eingewurzelten Anschauungen, auch nicht den Worten eines verehrten Meisters (und ich füge ohne Selbstironie hinzu: damit erst recht nicht mir!); sondern was ihr selbst gründlich geprüft und euch selbst und anderen zum Wohle dienend erkannt habt, das nehmt an.“Liebe Abiturientinnen,
Liebe Abiturienten!
Auch wenn es nach dem eben gesagten widersprüchlich erscheint: Lassen sie mich trotz dieses Zweifels an der Lehrbarkeit dessen, was ich ihnen in den letzten Minuten näher zu bringen versucht habe, abschließend noch folgende einfache und - wie ich meine - handhabbare Konkretisierung der bislang eher abstrakten Gedankengänge geben:Von Meister Eckhart, dem vielleicht bedeutendsten christlichen Mystiker zur Zeit der Wende des 13. Jahrhunderts in das 14. Jahrhundert, dessen Gläubigkeit und dessen tiefer Glaube an die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen auch durch Repressionen der Kirche, die Teile seiner Lehre als Ketzerei brandmarkte, nicht gebrochen werden konnte, stammt die folgende kleine Geschichte:Ein weiser Mann wurde einmal gefragt, welches die wichtigste Stunde im Leben, der wichtigste Mensch in seinem Leben und was das wichtigste Werk eines Menschen überhaupt sei. Die einfache Antwort lautete:Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart.Der wichtigste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht.Das wichtigste Werk ist immer die Liebe.Ich wünsche Ihnen allen, jedem einzelnen von Ihnen, jedem einzelnen von Euch, die Fähigkeit zu dieser „Nächstenliebe“ im wahrsten Sinne des Wortes, und natürlich viel gelebte Gegenwart, wann, wo und wie auch immer, intensives Leben und vorurteilsfreies Erleben.